«Meine Vorstellung vom Mannsein war implodiert» : Aids-Hilfe Schweiz

«Meine Vorstellung vom Mannsein war implodiert»

2013 wurde Philipp Spiegel positiv auf HIV getestet. Die Diagnose kam aus heiterem Himmel und veränderte seine Lebenseinstellung wie auch seine Wahrnehmung von Männlichkeit und Sexualität. Offen und ohne falsche Scham erzählt er, wie ihn die Diagnose in seinem Mannsein verunsicherte und wie er zu neuem Selbstbewusstsein fand.

Philipp Spiegel

Philipp Spiegel

In meinem Leben als Fotograf heisse ich Christoph Philipp Klettermayer. In meinem Leben als Autor und Künstler heisse ich Philipp Spiegel – ein Pseudonym, das ausschliesslich für meine HIV-bezogenen Arbeiten steht und als persönliche Abgrenzung dient.

www.philipp-spiegel.com
www.cklettermayer.com

Oktober 2019 | Philipp Spiegel

In den ersten Monaten nach meiner Diagnose dominierte HIV alle Aspekte meines Lebens. Es stellte nicht nur eine medizinische, sondern auch eine psychologische Belastung dar, wie mir erst viel später bewusst wurde. Ich hegte plötzlich Zweifel an allem, insbesondere an mir selbst. Unablässig hinterfragte ich meine Handlungen, meine Gedanken und meine Einstellungen. Schliesslich hatte ich mir HIV eingefangen – wie sollte ich mir selber noch vertrauen können? Neben diesen Zweifeln schlich noch etwas in meinen Hinterkopf: die Frage nach meiner verloren gegangenen Männlichkeit – und was diese für mich überhaupt bedeutete.

Mannsein als Konstrukt

Ich war schwach, ich war angeschlagen, ich war abhängig vom Staat und von Medikamenten. Ich war nicht imstande, ohne fremde Hilfe zu überleben. Dazu kam die Furcht vor Sex – das Gefühl, toxisch zu sein und als sexuell gefährlich wahrgenommen zu werden. Mein Selbstbewusstsein war in tausend Einzelteile zerfallen, eine dunkle Ohnmacht hatte sich in mir breitgemacht. Meine Vorstellung vom Mannsein war implodiert. Klar, meine frühere Definition hatte auch einem allzu bekannten Klischee entsprochen: der rauchende, trinkende Künstler, der um die Welt reist, um Abenteuer und Frauen zu suchen. Zu arrogant und zu cool für den Mainstream.

Und während ich diese Rolle liebte, hasste ich die anderen männlichen Klischees leidenschaftlich. Fitnesscenter, Fussball, Autos und Motorräder waren für mich lächerliche Beschäftigungen. Meine Bilder von Männlichkeit kamen aus der Literatur, nicht aus Männermagazinen. Ich suchte mein Testosteron in Zitaten von Kundera oder Henry Miller – nicht in albernen Artikeln wie «So bekommst du die Muskeln, die du schon immer haben wolltest». Immer wieder sah ich, dass es gerade die Männer mit den grössten Muskeln, den zerzausten Hipster-Bärten, den Man Buns und den meisten Tattoos waren, die vor echten Abenteuern flohen, einzig vor der Kamera gross posierten und nach Likes süchtig waren. Ich belächelte diese Instagram-Gestalten, die ihre Männlichkeit in Klischees inszenierten. Während sie auf Bali Yoga-Selfies schossen, trank ich mit Maoisten-Rebellen in illegalen Bars in Kathmandu Schnaps. Zumindest konnte ich der Oberflächlichkeit meine eigenen Männlichkeitsklischees entgegenhalten

Der unsichtbare Mann

Alles, was mir nach der Diagnose blieb, waren Erinnerungen. Erinnerungen an ein früheres Leben, in dem ich zumindest meine eigenen Vorurteile ausgelebt hatte. In dem ich der Abenteurer gewesen war, der charmant von Reisen und Literatur plaudert. Allerdings hatte mir dieses Männlichkeitsbild auch HIV eingebrockt. Und jetzt war da gar nichts mehr. Diese Zweifel zerstörten mein Selbstbild – als Fotograf, als Abenteurer, als Liebhaber und als Mann. In Galerien, in Bars und in Klubs stand ich plötzlich allein da, hinter einer Festungsmauer aus Verunsicherung. Angespannte Blicke, angespannte Muskeln und angespannte Gedanken dominierten meinen Körper. Steif war ich, ängstlich, und wünschte mir nichts mehr, als unsichtbar zu sein. Ich konnte das Geschehen nur noch aus der Distanz beobachten. Frauen und Intimität waren in unerträgliche Ferne gerückt. Dabei war früher alles so einfach gewesen. So einfach, ins Gespräch zu kommen, zu lächeln, zu flirten, einen schlechten Scherz zu erzählen. Aber nun war ich gelähmt, meine Schockstarre schien unüberwindbar. Überfallartig fluteten Gedanken meinen Kopf: Was könnte ich zu ihr sagen? Wie viel erzählen? Dass ich toxisch bin? Infiziert? Dreckig? In Situationen, in denen ich aus dem Stegreif über mich erzählen musste, wurde mein Mund ganz trocken und voller Ausreden, um zu fliehen. Ich erfand Geschichten, um über alles zu reden ausser über mich. Der Gedanke an Intimität machte mir Angst. Ich wurde in meine Teenagerzeit zurückgeschleudert, als der einfache Gedanke an die Berührung einer Frau ein nervöses Zittern ausgelöst hatte. Aber jetzt hatte ich den ultimativen Makel: HIV-positiv. In schmerzender Sehnsucht trauerte ich meinem früheren Leben nach.

© Philipp Spiegel

Nur noch anstrengend: Daten und Sex

Während der wenigen Dates, die ich überhaupt hatte, erzählte ich manchmal schüchtern und verängstigt von meinem HIV-Status. Leider wurde meine Ehrlichkeit meistens mit Ablehnung oder Ghosting belohnt. Das steigerte meine Angst vor Ablehnung nur noch mehr. Zum Selbstmitleid kamen die Versagensängste im Bett. Die wenigen Male Sex nach der Diagnose waren von Verunsicherung und eher erbärmlichen Vorstellungen geprägt. Verkrampft, verkopft und nervös konnte ich mich nie fallen, nie gehen lassen. Während des Sex schrie (m)eine Stimme im Kopf: Was machst du da? Kannst du der Nachweisgrenze vertrauen? Den Ärzten? Was, wenn das Kondom reisst? Mann, du bist schon gekommen?! Was sagst du ihr jetzt? Ist doch peinlich! Daten und Sex haben wollen war immer öfter mit Anstrengung, Verunsicherung und Angst verbunden. Das Schönste der Welt war negativ behaftet. Meine sexuelle Identität und meine Vorstellung von Männlichkeit, Abenteuer, Frauen, Sex und Freiheit waren begraben.

Der neue Mann?

Ein neues Männerbild musste her, eine neue Definition, eine neue Maske, ein neues Ego. Aber wo sollte ich das finden? In Zeiten von Social Media wie Instagram und Konsorten brachten mich die dort täglich frisch suggerierten Männlichkeitsbilder unter Druck. Ich war nicht fit, nicht cool, nicht aufregend genug, hatte keine Tätowierungen, keine schönen Haare, keinen coolen Bart. Und keine «geile Bikini-Schnitte» am Arm. Weder on- noch offline. Sogar bei den Aids-Hilfen lagen nur Broschüren mit jungen, muskulösen, gephotoshoppten Männern in Unterwäsche, die superlässig grinsten, auf. So sah ich doch nicht aus. Ich hatte nicht diese Muskeln, diese knackige Haut. Mit meinem Bierbauch und meinen Pickeln fühlte ich mich ausgelacht.

Meine Wahrnehmung von Männlichkeit und Sexualität hat sich stark verändert. Statt bei Dates schüchtern von HIV zu erzählen, rede ich heute offen und stolz darüber – und über die Auseinandersetzung mit meiner Sexualität.

Vor dem Virus hatte ich diese Ansprüche «an den modernen Mann» mit meinen anderen Eigenschaften kompensieren können. Sie ignorieren, sie lächerlich finden können. Aber in meinem neuen Zustand trugen sie zu weiteren Gefühlen der Unzulänglichkeit bei. Alles, was ich nach der Diagnose hatte, war HIV. Den grössten Makel überhaupt. Eine kastrierte Männlichkeit. Vor allem in den ersten Monaten, als sich alles um Arztbesuche, Medikamentenverträglichkeit und die Konfrontation mit einem neuen Leben drehte, war mein Selbstbild nur noch Geröll aus der Vergangenheit. Schliesslich erkannte ich, was mir HIV tatsächlich genommen hatte – meine Sexualität. Das, was ich stets als mein höchstes Gut und meine ultimative Freiheit angesehen hatte. Und obwohl mir meine neue Situation aufgezwungen worden war, verschaffte sie mir die Möglichkeit, mich genau damit auseinanderzusetzen. Ich hatte mein Selbstbild verloren, nun musste ich es neu definieren und neu gestalten. Das Trauma der Infektion überwinden und akzeptieren hiess: Es gibt keinen Weg zurück in mein altes Leben.

Abenteuer Mannsein

Dieses Abenteuer – diese Reise in mein Inneres – dauerte Jahre. Und ohne Freunde, Familie und viele, viele Stunden Therapie wäre sie nicht möglich gewesen. Aber es war längst an der Zeit, sie anzugehen. Meine Männlichkeitsbegriffe waren genauso verkrustet und veraltet wie diejenigen, über die ich stets gelacht hatte. Und so packte ich meine Sachen, meine Erfahrungen, meine Beziehungen und Freundschaften und nahm alles mit, um mich dieser Reise zu stellen. Zuerst musste ich es schaffen, mir selbst zu vergeben, um danach ein neues, unbekanntes Ich aufzubauen. Mit der Aufgabe, sich selbst zu definieren, kommt man nie wirklich an ein Ende. Als Kind der Achtziger schlummern noch immer uralte Klischees in mir, die nun langsam, aber stetig erneuert werden. Meine Wahrnehmung von Männlichkeit und Sexualität hat sich stark verändert. Statt bei Dates schüchtern von HIV zu erzählen, rede ich heute offen und stolz darüber – und über die Auseinandersetzung mit meiner Sexualität. Klar, gibt es gelegentlich Abfuhren, aber meist schaffe ich es dank meines neuen Selbstvertrauens, attraktiv zu wirken. Offen, ehrlich, sogar humorvoll. Zu den Entdeckungen, die dieser Prozess mit sich brachte, gehören nicht zuletzt Dankbarkeit und Demut, zwei Eigenschaften, an die ich vor meiner Diagnose nie gedacht hatte. Heute geniesse ich mein kostbarstes Gut – meine Sexualität – mehr denn je. Ich habe ein Selbstvertrauen zurückgewonnen, das es mir erlaubt, mich von suggerierten Männlichkeitsbildern nicht mehr einschüchtern zu lassen, sondern über sie zu lachen. Ich habe weiterhin keine tollen Tattoos, keinen Bart, keinen Man Bun oder Muskeln, die auf Bildern toll aussehen. Ich habe kein Auto, kein Motorrad – dafür ein altes Fahrrad. Und ich fliege nicht an die fotogenen Strände Thailands. Ich habe etwas viel Besseres.

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